Sven Minge: Inklusion – Vielfalt ist Normalität

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Inklusion ist weit mehr als ein politisches Leitbild oder eine gesetzliche Verpflichtung. Sie beschreibt eine grundlegende gesellschaftliche Haltung: Vielfalt ist Normalität. Inklusion bedeutet, dass alle Menschen – unabhängig von körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen, Herkunft, Alter oder sozialen Voraussetzungen – gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Unterschiedlichkeit ist dabei keine Abweichung, sondern ein Wert.

Inklusion – mehr als Integration

Während Integration fragt, wie sich einzelne Menschen in bestehende Systeme einfügen können, stellt Inklusion die Systeme selbst infrage. Strukturen, Organisationen und Angebote müssen von Beginn an so gestaltet sein, dass niemand ausgeschlossen wird.

Dieses Verständnis knüpft an die UN-Behindertenrechtskonvention an, die Teilhabe, Selbstbestimmung und Barrierefreiheit als Menschenrechte definiert.

Eigene berufliche Prägung: Werkstattpraxis 1996–2003

Meine persönliche Auseinandersetzung mit Inklusion begann früh und sehr praxisnah. Von 1996 bis 2003 war ich beruflich in einer Werkstatt für behinderte Menschen tätig – zunächst als Zivildienstleistender, später als Gruppenleiter und damit als Fachkraft für Arbeits- und Berufsförderung. In dieser Zeit habe ich den Werkstattalltag intensiv erlebt: die Förderung von Menschen mit sehr unterschiedlichen Unterstützungsbedarfen, die Verantwortung für Arbeitsprozesse, aber auch die strukturellen Grenzen dieses Systems.

Diese Jahre haben meinen Blick nachhaltig geprägt. Einerseits bot die Werkstatt Schutz, Struktur und Beschäftigung. Andererseits wurde deutlich, wie stark das System auf Absonderung ausgerichtet war: getrennte Arbeitswelten, eingeschränkte berufliche Perspektiven und nur geringe Übergänge in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Inklusion im heutigen Verständnis spielte damals kaum eine Rolle – weder konzeptionell noch praktisch.

Behindertenwerkstätten – lange Zeit weit entfernt von Inklusion

Historisch entstanden Werkstätten aus einem fürsorglichen Ansatz. Ziel war es, Menschen mit Behinderungen Beschäftigung und Sicherheit zu geben. Dieser Ansatz war gut gemeint, führte jedoch häufig zu dauerhafter Ausgrenzung. Menschen arbeiteten nicht mit der Gesellschaft, sondern neben ihr. Selbstbestimmung, Mitbestimmung und faire Entlohnung waren stark begrenzt.

Meine eigene Tätigkeit als Gruppenleiter machte diese Spannungsfelder besonders sichtbar: zwischen Förderung und Fremdbestimmung, zwischen Engagement der Fachkräfte und den engen systemischen Rahmenbedingungen. Rückblickend wird deutlich, warum Werkstätten lange Jahre von echter Inklusion weit entfernt waren.

Professionelle Weiterentwicklung und strategische Perspektive

Später konnte ich meine praktischen Erfahrungen in eine strategische und konzeptionelle Arbeit überführen. Als Landesreferent für Inklusion beim Arbeiter-Samariter-Bund habe ich Inklusion nicht nur begleitet, sondern aktiv mitgestaltet. Dabei ging es um Organisationsentwicklung, um Qualifizierung von Haupt- und Ehrenamtlichen sowie um die Frage, wie Teilhabe konkret verbessert werden kann.

Ein zentraler Schwerpunkt lag auf Fortbildungen. Sie sind der Schlüssel für Veränderung, weil sie Haltung, Fachwissen und Handlungssicherheit verbinden. Inklusion beginnt nicht mit Programmen, sondern mit dem Bewusstsein der handelnden Personen.

Paradigmenwechsel: von der Sonderwelt zur Wahlfreiheit

Mit dem gesellschaftlichen Wandel und dem wachsenden Bewusstsein für Teilhabe gerieten die klassischen Werkstattstrukturen zunehmend unter Druck. Modelle wie Außenarbeitsplätze, inklusive Betriebe oder das Budget für Arbeit zeigen, dass Alternativen möglich sind. Entscheidend ist dabei nicht die Abschaffung aller Werkstätten, sondern echte Wahlfreiheit: Menschen müssen selbst entscheiden können, wo und wie sie arbeiten möchten – mit fairer Bezahlung und realen Entwicklungsperspektiven.

Fazit: „Es lebe der Unterschied!“ ist für mich Ergebnis eigener beruflicher Erfahrung und fachlicher Auseinandersetzung. Vom Werkstattalltag der späten 1990er-Jahre bis zur strategischen Inklusionsarbeit auf Landesebene zieht sich eine klare Erkenntnis: Inklusion ist kein Zusatzangebot und kein Projekt mit Enddatum. Sie ist eine Haltung und ein kontinuierlicher Auftrag. Inklusion gelingt dort, wo Menschen ernst genommen werden – mit ihren Fähigkeiten, ihren Grenzen und ihrem Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. Sie ist der Maßstab für eine gerechte, solidarische und zukunftsfähige Gesellschaft.